„…es ist die Qualität des Augenblickes – egal, wie viele Augenblicke noch kommen“

Tim Krämer begleitete seinen Vater in unserem Hospiz und erzählt über sein Erleben, seine Gefühle und was es ihm bedeutet.

Klein: Vielen Dank Tim, dass Sie bereit sind, uns an Ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben zu lassen. Als Ihr Vater zu uns kam war die ganze Familie an seiner Seite, Sie haben offen und wie selbstverständlich über die bevorstehende Zeit und den Tod geredet. Das war sehr beeindruckend und berührend.

Krämer: Unsere Familienstruktur ist sehr gefestigt. Wir mussten unser Verhalten nicht ändern. Ich hatte immer den Gedanken im Kopf, dass mein Vater sich um mich gekümmert hat, als ich noch nichts konnte, als Säugling. Er hat mich großgezogen und jetzt gebe ich das zurück und begleite ihn auf dem Weg.

Klein: Wie ging es Ihnen damals, als die Schwere der Erkrankung Ihres Vaters bekannt wurde?

Krämer: Zu Anfang war da die blanke Panik, Atemlosigkeit, Angst und Traurigkeit. Wenn so eine Grundsäule wie der Vater, der ein ganzes Leben lang immer für einen da war wegbricht, gerät man erst mal ins Wanken. Auch die Gedanken an die Mutter, wie wird das für sie. Meine Eltern hatten klassische Arbeitsteilungen. Sie haben alles abgesprochen und jetzt ist alles durcheinander. Natürlich stand auch bei ihr die Angst im Vordergrund. Sie wusste, dass mein Bruder und ich uns um sie kümmern, dass sie Nachbarn hat, dass sie genug Netzwerke hat, die das alles auffangen, Kolleginnen/Kollegen, die auch ständig anrufen und sich erkundigen. Aber …

Klein: Trotzdem muss man den Weg zunächst mal alleine gehen, auch wenn man rechts und links Hilfe hat.

Krämer: Eine Eigenschaft, die bei uns immer ganz präsent war, war Kommunikation. Ehrlich – klar und offen – wertschätzend – konstruktiv – kritisch, damit man eben auch genau weiß, okay, was denkt der Andere, wie geht’s dem Anderen? In welchem Raum bewege ich mich jetzt gerade? Und ich denke, das öffnet dann auch den Raum, das alles zu verarbeiten. Dass man auch mal sagen kann: „Ich brauche heute Zeit für mich,“ ohne dass der Andere denkt, man hätte kein Interesse.

Klein: Kann man sagen, dass die gute Vertrauensbasis in ihrer Familie den ganzen Prozess der Verarbeitung erleichtert hat? Ohne Angst sagen zu können, was man braucht, das kann ja auch sehr entlastend sein für die anderen. Man muss sich dann nicht immer so viele Sorgen machen.

Krämer: Ich denke, alles was jetzt war, diese Sterbebegleitung – wie wir es jetzt für uns innerhalb der letzten Wochen so verarbeiten konnten – wie wir miteinander geredet haben, das alles sind die Früchte dessen, was wir vorher über Jahrzehnte als Familie aufgebaut haben. Weil genau in dieser Stresssituation, wo einem der Kopf aus „allen Nähten“ platzt, gerade dann greifen diese Strukturen, die man aufgebaut hat. Und die kommen von ganz alleine und ich denke, wenn man in dieser Situation dann noch überlegen müsste, was mache ich jetzt – wie gehe ich jetzt damit um? Das wäre noch eine Belastung mehr.

Klein: Ja – und damit haben halt viele Familien sehr zu kämpfen, weil sie nicht auf diese gelebte Kultur zurückgreifen können. Da entsteht schon auch oft eine große Spannung im Vorfeld, die mit in unser Hospiz gebracht wird. Wenn Gäste der Pflege oder der Seelsorge gegenüber Bedürfnisse äußern, von denen die Familie nichts weiß, kann das schon mal zu ganz schön schwierigen Situationen führen. Sterben ist ein individueller Prozess, da möchte manch einer lieber für sich sein, auch das ist nicht immer einfach zu vermitteln. Für uns steht der Wille des Gastes im Vordergrund, wir lassen aber auch die Angehörigen nicht allein. Das kann ein Spagat sein. Wie war das während der Krankheit Ihres Vaters- haben Sie sich da immer gut informiert und aufgeklärt gefühlt?

Krämer: Also der Leidensweg begann erst vor gut einem Jahr und als dann die Diagnose Akute Leukämie da war, da war‘s für uns halt direkt auch schon klar, dass er in die Uniklinik nach Mainz kommt, weil ich nur wenige Autominuten entfernt von der Klinik lebe und die ganze Zeit präsent sein konnte. Meine Mutter war dann regelmäßig da und konnte den Papa besuchen. Es durfte nur eine Person in die Station wegen Corona. Aber ich war bei den Arztgesprächen dabei und wir standen ständig im Austausch. Der Vater hat das ja dann auch ständig kommuniziert. Ist fast schon zu einem „kleinen Hobby-Hämatologen“ geworden – diese ganzen Begrifflichkeiten und so. Also, ich wusste stets genau, auf welcher Ebene sich der Papa befunden hat und was jetzt als Nächstes kommt, das haben die Ärzte auch immer ganz klar kommuniziert. Was ich auch gut fand – gut aus medizinischer Sicht wird das wahrscheinlich so gemacht – dass es alles sehr nüchtern betrachtet wird, dass gesagt wird: „Herr Krämer, hier, die und die Option, es kann funktionieren, es muss aber nicht funktionieren.“ Bei meinem Vater haben sich gewisse Werte innerhalb von kurzer Zeit nach erfolgreicher Stammzellen-Transplantation wieder verschlechtert, was schon eher die Ausnahme ist. Das lässt dann natürlich die Ärzte kurz schlucken. Und deswegen wurden unsere Fragen nach Heilungschancen und nach „Wird er denn wieder gesund?“ immer relativ schnell und nüchtern dann beantwortet. Was allerdings irgendwo auch gut ist, weil, dann weiß man, mit was man sich jetzt auseinandersetzen muss.

Klein: Es ist oft einfacher, mit einer klaren Aussage zu leben als wenn immer noch tausend Optionen offen sind und man denkt: „Na ja – in welche Richtung soll ich denn jetzt gehen?“

Krämer: Als die Situation noch nicht so klar war und man es noch nicht so realisiert hatte war die Kommunikation noch etwas „verblümt“. Das hat sich aber schnell geändert, weil wir das auch so wollten damit wir uns damit auseinandersetzen konnten. Von da an war es gut, dass der Vater so mit der Familie kommuniziert hat und auch die Ärzte und alle, die dann damit zu tun hatten.

Klein: Wie ist denn die Entscheidung fürs Hospiz gefallen?

Krämer: Also, die Dynamik der Krankheit, die Problematik, war halt, dass immer wieder neue Krebszellen gefunden worden sind. Also, es war ein ständiges Auf und Ab von Chemotherapie und kurze Genesungszeit zu Hause. Über diesen ganzen Zeitraum hatte er gut 25 kg abgenommen. Dann kam irgendwann diese Diagnose nach dem Blutbild, es sind schon wieder Krebszellen im Knochenmark. Als dann alle Behandlungsoptionen besprochen wurden meinet mein Vater, dass er für eine weitere Knochenmarkstransplantation und den damit verbundenen Leidensweg keine Kraft mehr habe. Wir haben ihm dann gesagt: „Das ist absolut in Ordnung – du musst dich nicht quälen und wenn das die Entscheidung ist, dann tragen wir die als Familie natürlich mit.“ Dann war halt die Frage: „Was machen wir dann noch?“ Es war schlimm für ihn, sein Haus nie wieder zu sehen - aber es ging zu Hause nicht. Von der Palliativstation kam er dann hierher, ins Hospiz.

Klein: Wer hatte die Idee für das Hospiz?

Krämer: Mama und Papa standen da in ganz engem Austausch. Mein Vater hat immer gesagt, er würde, wenn irgendwo ins Hospiz, dann gerne zurück in die Heimat. Mein Vater hat lange Zeit in St. Wendel gearbeitet und hatte hier viele Kollegen.

Klein: Was war denn so Ihre Vorstellung von einem Hospiz?

Krämer: Also, ich wusste natürlich, dass ein Hospiz ein Ort ist, wo man hingeht um zu sterben. Eigentlich nicht mehr und nicht weniger. Man hat natürlich diese Affinität dazu im Kopf, das wird dann wohl eher ein ruhiger Ort sein, ein grauer Ort, ein Ort, wo jeder für sich ist. An dem es quasi keine Lebensqualität mehr gibt. Man begleitet denjenigen nur noch beim Sterben und das war`s. Das waren so meine Ideen zum Hospiz.

Klein: Mit welchem Gefühl sind sie denn hier zum ersten Mal hergekommen?

Krämer: Ehrlich gesagt, habe ich mir über das Hospiz an sich weniger Gedanken gemacht, sondern eher so um die Zeit, die jetzt kommt. Ich dachte wirklich, er ist im Zimmer, er bekommt dann seine Medizin, Schmerzmittel und so und wird dann quasi sediert, ruhiggestellt, damit er keine Schmerzen mehr hat. Und dann geht er langsam. Ich hatte gar keine Ideen davon, dass es dann hier Mittagessen gibt oder was auch alles geboten wird.

Klein: Als sie dann hier angekommen sind, was war ihr erster Eindruck?

Krämer: Also zunächst mal war ich positiv überrascht, wie schön auch die Außenanlage draußen ist. Ein Ort, wo man auch hingeht, um mal auszuspannen, auch mal ein bisschen die Natur zu genießen in der Zeit, die man hier ist. Das erste, was mir aufgefallen ist, war die Größe des Zimmers (Anm.: Appartement), mit diesem schönen Sessel und den Blumen mit den Bienen vor dem Fenster. Die Sonne, die rein geschienen hat - es sind die Kleinigkeiten, die einem dann auffallen. Und ich glaube es vergingen kaum 10 Minuten, da kam schon ein Pfleger ins Zimmer. Er hat uns begrüßt, die Aufnahme gemacht und stand uns direkt schon mit Rat und Tat zur Seite. Also fast so wie Einchecken in einem Hotel. Da waren wir schon so ein bisschen perplex. Es wurden auch schon viele persönlichen Dinge besprochen. Was man gerne essen würde. Welche Vorlieben man hat. Man hat halt wirklich gespürt, dass dieses Interesse am Menschen absolut präsent ist. Und dass man auch so zukunftsgerichtet plant. Die Zeit, die einem noch geschenkt wird, so gut wie möglich eben, zu gestalten. Klar denkt man: „Wer weiß, ob er die Nudeln nächste Woche noch essen kann?“ Aber trotzdem hat es uns ein positives Gefühl vermittelt. Und dann kam der Willkommen-Blumenstrauß… In der Situation selbst sagt man: „Ach, das ist aber schön – Dankeschön.“ Aber, wenn man dann die Zeit hat und im Auto alles reflektiert, dann merkt man schon schnell, dass hier nicht nur Schema F gearbeitet wird, so nach dem Motto „Hauptsache, die Versorgung ist sichergestellt.“ Sondern dieses Wohlgefühl, das Ankommen, das „Sich- geborgen-Fühlen“. Das hat den Einstieg extrem erleichtert, sodass wir uns schon direkt gut aufgenommen gefühlt hatten.

Klein: Es gibt diese Aussage der Pionierin der Hospizbewegung Cicely Saunders, der sich durch die ganze Hospizarbeit zieht: „Es geht nicht darum dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben.“ Ich denke, das ist genau das, was sie beschreiben. Es kommt nicht darauf an, ob es 20 Tage sind oder ob es 1 Tag ist - jeder Tag will gelebt werden.

Krämer: Ich denke, es ist die Qualität des Augenblickes- egal, wie viele Augenblicke noch kommen.

Klein: Das stimmt.

Krämer: Und ich meine, umso besser ist es ja, dass wir jetzt Öffentlichkeitsarbeit machen. Denn ich denke, so wie es mir ging, so geht es den Meisten. Man hat ja gar keine Ahnung davon.

Klein: Sie waren ja täglich in unserem Hospiz. Können Sie sagen, was für Sie die Qualität hier ausgemacht hat?

Krämer: Es ist die Summe der kleinen Dinge, die am Ende das schöne Gesamtkonzept ausgemacht haben. Auch dass sich nach jedem Schichtwechsel das Personal vorgestellt hat und dass immer wieder jemand rein kam und nach uns gesehen hat. In der Küche, der Koch, die Köchin, die ganzen Gespräche, die man geführt hat. Alles was man wollte wurde ermöglicht – mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und Herzlichkeit. Die Zeit, als mein Vater gestorben war und wir zu ihm kamen, haben wir als eine sehr, sehr würdevolle und stille Zeit erlebt. Er lag da, so schön zugedeckt – ein würdevoller Anblick. Die Mühe, die man sich gegeben hat. Es war eine ganz besondere Stimmung im Zimmer. Verschiedene Lampen waren an, die für harmonisches und meditatives Licht gesorgt haben. Und das war dann schon eine Situation, wo ich auch Dankbarkeit verspürt hatte und mir selbst gesagt habe: „Danke, dass ihr das alles so schön organisiert habt.“

Klein: Diese Abläufe sind für uns zwar tagtäglich, aber sie verlieren nichts von ihrer Menschlichkeit. Diese Verabschiedungssituation ist sehr wichtig. Hierfür muss Raum und Zeit sein. Wir respektieren die Wünsche des Gastes aber auch die der Angehörigen, die vielleicht Beistand beim Abschied nehmen brauchen. Niemand wird alleine gelassen. Hier leisten unsere Pflegekräfte, aber auch die Seelsorge eine intensive und sehr wichtige Arbeit.

Krämer: Diese Zeit, die wir hier noch geschenkt bekommen haben, die haben wir intensiv genutzt, um wirklich alles noch mal auszusprechen, alles zu klären, sodass mein Vater gut gehen konnte. Er wusste, es ist alles vorbereitet, es ist alles geklärt, die Mutter ist in guten Händen. Und dann ging es ja auch relativ schnell. Mein Bruder und ich waren morgens noch da, dann waren Sie noch da, meine Mutter noch spät nachmittags. Wir haben mit ihm geredet, ihm nochmal Videos gezeigt von gemeinsamen Urlauben in den Bergen, in Südtirol, wo immer so sein Herz schlug und dann konnte er gehen, still und friedlich, ohne großes Tamtam, ohne Schmerzen.

Klein: Als ich bei Ihnen war haben Sie und Ihr Bruder gesagt: „Der Papa macht es uns im Tod so leicht, wie er es uns im ganzen Leben leicht gemacht hat.“ Das hat mich sehr beeindruckt und ist mir im Kopf hängen geblieben. Ich dachte: „Das Sterben spiegelt das Leben…“. Manches Leben gelingt nicht gut, weil man vielleicht in Situationen hineingeboren wird, die es einem nicht einfach machen. Und so schwierig ist häufig auch das Sterben. Man hat nicht immer alles in der Hand. Aber mir wurde nochmal deutlich, was Ihr Vater mit Ihrer Mutter gemeinsam geschaffen, was er Ihnen als Kinder mitgegeben hat. Sie konnten sich gegenseitig halten, aber auch loslassen.

Krämer: Ich denke, meine Vater hat uns Zeit seines Lebens alle Liebe gegeben, die er hatte und alle Fürsorge – wir sind damit aufgewachsen. Wir hatten nicht den Stress, in den letzten Tagen seines Lebens noch ganz viel nachholen zu müssen. „Jetzt liegt der Vater im Sterben und ich will doch noch so viel und ich muss doch noch so viel und jetzt muss ich ihm 100 Dinge sagen, damit diese ausgesprochen sind, von meiner Seele weg…“ Diese Situation hat sich bei uns ja nie gestellt. Wir haben ja genauso mit ihm am Bett gesprochen, wie wenn wir zusammen am Frühstückstisch gesessen hätten. Weil das alles auch schon ganz klar war, diese Nähe, diese Liebe, das war alles schon in diesem Raum. Und ich denke, das ist dann nachher auch dieser heilsame Gedanke, der einen begleitet über die nächsten Jahrzehnte - sagen zu können: „Es war alles gut – der Abschluss, so wie er war, so traurig - aber doch auch so würdevoll und intensiv.“ Und wie vielen Leuten wird diese Gnade nicht zuteil, wenn jemand abrupt verstirbt, man beim letzten Treffen im Streit auseinandergegangen ist, das kann man schwer verarbeiten. Für mich als Sohn ist es wichtig, dass ich sagen kann: „Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan.“ Ich habe meinen Frieden damit und kann das dann damit auch gut verarbeiten und gut annehmen.

Klein: Ist auch eine schöne Bilanz, dass nichts zurückbleibt - keine Schuld, keine ungeklärte Situation. Es ist nicht immer möglich, vor dem Sterben alles zu klären. Und dennoch kann es möglich sein, in Frieden mit sich und anderen zu gehen. Aber es ist schon entlastend, wenn man für sich eine gewisse Stimmigkeit fühlt.

Krämer: Vor allen Dingen, wenn man merkt, dass das alles echt ist und es muss jetzt nichts gespielt werden. Wenn man mit jemandem die letzten 10 Jahre kein Wort geredet hat und jetzt noch schnell besuchen will – das wollte mein Vater nicht. Ihm war die „echte“ Familie wichtig.

Klein: Konnten Sie hier im Hospiz Ihre Intimität als Familie leben?

Krämer: Absolut – absolut! Also wir hatten es nicht als störend empfunden, wenn mal jemand reinkam. Es wurde ja auch immer höflich angeklopft, also da wurde nicht die Tür aufgerissen oder so. Wir konnten stets alles machen, was wir wollten. Die Angebote waren ja da. Ob wir jetzt nach draußen gegangen sind oder in den Speiseraum, wir konnten wirklich so sein, wie wir es auch sonst gewesen wären. Wir mussten uns nie verstellen, es war gut, so wie wir waren – das war ja der „Wohlfühleffekt“. Der Fokus lag nur noch auf der gemeinsamen Zeit.

Klein: Hatten Sie den Eindruck, dass ihr Vater auch medizinisch und pflegerisch gut versorgt war?

Krämer: Also auf jeden Fall! Er hat versucht, es uns allen leicht zu machen. Mein Vater war Zeit seines Lebens ein stolzer Mann. Er wollte unbedingt alles selbst machen, hat sich sehr gefordert. Aber das letzte Stück Eigenverantwortlichkeit war ihm sehr wichtig. Und das konnte er behalten.

Klein: Es zeigt, wie wichtig es ist, dass auch die Pflege Zeit für diese aufwendige Unterstützung hat. Das ist leider in anderen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Seniorenzentren nicht immer so möglich – die Pflege steht da unter einem enormen Dilemma – Zeitdruck einerseits und der würdevolle Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen anderseits.

Krämer: Also, das ist mir auch aufgefallen. Es war ständig jemand da war. Man musste sich nicht auf die Suche machen nach Personal. Sei es am Dienstplatz der Pflege, im Flur oder in der Küche, man hatte immer direkt irgendeinen Ansprechpartner. Als mein Vater einen kleinen Kreislaufzusammenbruch hatte, war binnen Sekunden Hilfe bei uns. Das war schon besonders…

Klein: Ihr Vater hat zu Lebzeiten auch gerne gekocht, hatten Sie erzählt. Für ihn war der Aufenthalt in der Küche auch so was Besonderes, was ich selbst miterleben konnte und was Sie auch so geschildert hatten. Mein Eindruck war, dass es nicht darauf ankam, wieviel er essen konnte, dass alleine das Sitzen am Frühstücks- oder Mittagessenstisch – mit der ganzen Familie - sowas wie „eigenes Leben“ war.

Krämer: Er war halt einfach in der Situation, sich nochmal jemandem mitzuteilen. Das Fachsimpeln mit dem Koch hat ihm ein Stück Normalität gebracht, weg von seiner Krankheit. Es war so schön zu merken, wie klar im Geist er noch war, gerade wenn er Rezepte ausgetauscht und über Zubereitungsarten philosophiert hat. Auf diese Art sein eigenes Leben ein Stück weit mit jemandem zu teilen, hat ihm viel gegeben.

Klein: Und sie waren als Familie auch nochmal gemeinsam am Tisch.

Krämer: Das ist auch Tradition bei uns gewesen. Der Essenstisch als Symbol für Familienzeit. Der Ort, an dem Gespräche geführt werden. Der Ort, an dem zusammen gelacht und auch mal diskutiert wird. Dinge geklärt werden – so dieser Mittelpunkt... genau, das dann auch hier. Wir haben über viele Dinge sprechen können. Er hat sich auch gerne erinnert an die Zeiten früher. Das ist auch so ein Wort, das sehr gut in diese ganze Hospizarbeit hineinpasst – „Erinnerung“.

Klein: Wir hatten die Küche ja eigentlich so aus der Not heraus in diesen Gemeinschaftsraum gebaut, weil wir einfach zu wenig Platz hatten. Aber ich denke, im Nachhinein ist es eigentlich ein sehr gutes Konzept - das Kochen und Kommunizieren. Die Menschen kommen, setzen sich hin und können Anteil nehmen an allem, was gerade in der Küche passiert.

Krämer: Und auch das hätte ich mir so vorher gar nicht vorstellen können. In Kombination mit diesem Hospiz – ja mit diesem „Sterbehaus“, wie man es als „Laie“ vielleicht nennt. Der Ort, wo nur noch aufs Ende gewartet wird. Ich meine, das ist ja vom Konzept her schon ganz anders - das Leben gestalten und nicht nur den Sterbeprozess begleiten.

Klein: Das läuft natürlich parallel. Die täglichen Visiten durch unsere Palliativmediziner:innen, das sehr gut aus- und fortgebildete Pflegepersonal, das gewährleitet schon eine medizinisch und pflegerische Versorgung auf hohem Niveau. Viele Menschen sind überhaupt erst wieder aufnahmefähig, wenn ihre Symptome entsprechend behandelt sind – Schmerzen, Ängste, Atemnot, das kann einem schon sehr zu schaffen machen. Und da ist hier im Hospiz eine sehr gezielte und differenzierte Versorgung Tag und Nacht möglich. Es wird oft gesagt, dass die meisten Menschen zu Hause sterben möchten – was denken Sie darüber?

Krämer: Ich denke, Sterben zu Hause ist ein „romantischer“ Gedanke, der in vielerlei Hinsicht nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit von den Betroffenen zu tun hat. Dieser hohe Betreuungsaufwand, die Medikamentengabe, Toilettengänge, es kann immer was sein… das ist zu Hause kaum zu leisten. Ich bin sehr froh, dass es solche Einrichtungen wie Hospize gibt.

Klein: Es gibt auch sehr gute Betreuungsangebote zu Hause, aber das genügt halt nicht immer. Eine Angehörige hat mal zu mir gesagt, dass sie die Zeit mit ihrer Mutter hier im Hospiz als eine geschenkte Zeit erlebt habe. Sie musste sich um nichts mehr kümmern, es habe auch keine konflikthafte Situationen mehr gegeben. Sie konnte ganz „Tochter“ sein. Ist das für Sie das nachvollziehbar?

Krämer: Auf jeden Fall! Ich unterstreiche das mit drei Ausrufezeichen. Der Fokus liegt wirklich nur auf dieser gemeinsamen Zeit.

Klein: Wie haben Sie denn die Räumlichkeiten in unserem Hospiz erlebt?

Krämer: Meiner Mutter ist sofort die liebevolle und durchdachte Dekoration aufgefallen. Es wird auch das Sinnliche angesprochen. Im „Raum der Stille“ saß ich öfters. Mir hat dieser Raum viel gegeben. Auch dieses Buch, in dem Leute was reingeschrieben haben. Ich weiß, am ersten Tag war ich schon im Raum der Stille. Ich musste mich sammeln, ich war überwältigt von all den Eindrücken – ich hatte auch meinen Vater eine Zeit lang nicht gesehen. Ich habe die Tür zugemacht, habe mich umgeschaut, die beruhigende Atmosphäre gespürt. Es ist schön, dass es diesen „Raum der Stille“ gibt. Die Geschichten in dem Gedenkbuch haben in mir den Gedanken eingepflanzt, dass es anderen Menschen genau so geht wie uns, „das haben die auch schon hier erlebt“... Und was aufgeschrieben wurde ist wirklich durch die Bank weg einfach nur mit Dankbarkeit zu verbinden: „Danke für die Worte, danke für die Zeit, für das Kümmern, für die hohe Sensibilität der Mitarbeiter, für die Bedürfnisse der Betroffenen, der Familie…“

Klein: Wir haben ein Ritual in der Pflege gemeinsam mit der Seelsorge zur Verabschiedung der Menschen, die im Zeitraum von einer Woche verstorben sind. Wir legen einen Stein mit dem Namen des Gastes in die Mitte und alle erzählen, was sie mit diesem Menschen verbinden. Das können die unterschiedlichsten Erlebnisse, Gedanken oder Erzählungen sein – mal lustig, mal bedrückend. Beim Gedenkgottesdienst für die Angehörigen und Freund:innen sind die Steine dann gemeinsam mit den Kerzen auf dem Altar. Dann sind wieder alle beisammen und wir feiern das Erinnern und den Übergang.

Krämer: Das ist ein schönes Ritual. Vor allen Dingen, es ist ja auch was für die Mitarbeiter, das nochmal zu einem guten Abschluss führt. Wenn man jedem mit der gleichen Herzensgüte begegnen möchte, dann muss man die Energie auch irgendwo nochmal aufladen.

Klein: Zu sehen, dass man einem Menschen helfen kann, das gibt auch viel. Die Wertschätzung, die Ihre Familie unserem Personal, unserem ganzen Haus entgegengebracht habt, daraus zieht man auch seine Energie. Zu merken, dass die Bemühungen nicht ins Leere laufen, dass sie ankommen, gesehen werden und wirken, das ist so sehr wichtig! Aber es gibt schon auch eine große Dankbarkeit, die von uns an die Menschen geht, die zu uns kommen und die uns ihr Vertrauen schenken - gerade in einer so schwierigen Lebenssituation.

Krämer: Meine Großeltern haben einen Spruch geprägt, der sich durch unsere ganze Familie zieht: „Willst du glücklich sein im Leben – dann trage bei zu anderer Glück – denn die Freude, die wir schenken, kehrt ins eigene Herz zurück." Damit ist alles gesagt.

Klein: Ja! Es beschreibt die Begegnung der Menschen von Herz zu Herz. Auch hier – bei aller notwendigen Professionalität. Mir hat mal jemand gesagt, das Hospiz sei ein Ort der „gelebten Achtsamkeit.“ Ich finde, es beschreibt sehr schön, wie sehr die individuellen Bedarfe und persönlichen Gegebenheiten jedes einzelnen Menschen be- und geachtet werden. Manchmal denke ich, dass es ganz wunderbar ist, eine solche Achtsamkeit zum Lebensende hin zu erleben, aber mitten im Leben wäre es doch auch ganz schön… Von der Hospizbewegung kann die Gesellschaft - kann jeder Mensch - viel lernen. Das ist eine zutiefst gerechte und humanitäre Bewegung, die einer Gesellschaft sehr gut tut.

Krämer: Also, was ich persönlich jetzt auch gelernt habe, ist ein ganz anderer Blick auf`s Sterben. Ich hatte noch nie vorher in meinem Leben eine Leiche gesehen. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine so enorme psychische Belastung, wie das jetzt in diesen letzten Wochen war. Ich bin dadurch deutlich stärker geworden. Ich bin nicht mehr dieselbe Person, die ich noch vor vier Wochen war, dankbarer fürs eigene Leben. Man achtet noch mehr darauf, dass man wirklich ein gutes und erfülltes Leben leben darf, eben weil man jetzt auch sieht, wie schnell es manchmal vorbei sein kann. Und diese ganzen Eindrücke, die ich hier gesammelt habe, die haben mir auch ein Stück weit die Angst genommen, wie das dann am Ende sein kann. Man sagt ja oft: „Man wird alleine geboren und stirbt alleine.“ Wenn man das zuvor noch nie erlebt hat, wie harmonisch und würdevoll und achtsam das alles hier abläuft, kann man es sich nicht vorstellen. Deshalb ist es wirklich schön für mich, das erlebt zu haben.

Klein: Vielen Dank, dass sie ihr sehr persönlichen Gefühle, Eindrücke und Gedanken mit uns und anderen Menschen teilen.

Krämer: Sehr gerne!

Das Interview führte Hospizleiterin Barbara Klein am 11.08.2022.

Hospiz Emmaus
Am Hirschberg 1c
66606 St. Wendel
Telefon:06851 80009-0
Telefax:06851 80009-29
Internet:http://www.hospizemmaus.de

Unsere Spendenkonten

Kreissparkasse St. Wendel
IBAN: DE 39592510200059015461
BIC: SALADE51WND
Bank 1 Saar
IBAN: DE 54591900000401391002
BIC: SABADE5S